Ausstellung Päivi Rintaniemi + Birgit Särmö-Woll. Zwei finnische Künstlerinnen in der Hirzbacher Kapelle
Zur Vernissage sprach die Kunsthistorikerin Dr. Schoole Mostafawy, Badisches Landesmuseum Karlsruhe
„Wir kommen und gehen wie die Vögel, nicht wie Schneehühner und Krähen, die hier bleiben, sondern wie Zugvögel, im Winter in den Süden, im Sommer in die Fjälls im Norden. Sie ‚besitzen’ nichts, sie haben nur das, was sie mitnehmen können.“
So umschreibt der schwedische Same Andreas Labba (1907-1970) im vergangenen Jahrhundert einen Seinszustand, den wir heute sinnbildlich auf unsere Ausstellung übertragen wollen: „Mat-Kalla“, zu deutsch: „unterwegs“ lautet das Motto, das sich vielsagend um die Arbeiten der beiden finnischen Künstlerinnen Birgit Särmö-Woll und Päivi Rintaniemi rankt, schon dem Begriff nach Transithaftes, Flüchtiges, lediglich im Hier und Jetzt Lebendiges meint und gerade dadurch den Weg zur Erkenntnis ebnet. So unterschiedlich die hier präsentierten Arbeiten in ihrer formalen Gestaltung sind hier die keramischen Installationsobjekte von Päivi Rintaniemi, dort die papierenen Skulpturen von Birgit Särmö-Woll so sehr haben sie eines gemeinsam: Um das Wesen der Dinge zu erfassen, eine tiefere Sinnschicht aufzudecken, wird die Form isoliert und das Spezifische des Phänomens „unterwegs“ – das sich beständig im Wandel Befindliche in statischen, in mühevollem Prozess aus vielen Einzelschichten erschaffenen Objekten transzendiert.
In diesem Zusammenspiel wird in der Werkschau beider Künstlerinnen eine Präsenz vom Gegenstand erwirkt, die sich zwar durch das Objekt selbst erklärt, aber in seiner inhaltlichen Komplexität unablässig sich selbst und dem Betrachter entzieht. Die Deutung des einzelnen Objekts steckt wie die Person der jeweils Kunstschaffenden voll kultureller und persönlicher Assoziationen – zum Selbst wie zu der das Selbst umgebenden natürlichen oder gesellschaftspolitischen Veränderungen ausgesetzten Umwelt. Sie umfasst letztlich die konstanten wie wandelbaren Mechanismen einer Persönlichkeit, die Ausdruck eines manchmal klaren, manchmal diffusen Lebensgefühls ist und unterschiedliche Spielarten der Wahrnehmung zulässt. Zwischen Materialisierung und Entmaterialisierung eines bestimmten Körpers, Spiegelbild und Katalysator der zyklisch sich verdichtenden, dann wieder auseinanderdriftenden Gedanken- und Handlungsabläufe, kommuniziert sich dann auch die Sicht des Daseins, in den paradoxen Interventionen findet gar die Vielgestalt der gegenwärtig erlebten Identität ihren visuellen Ausdruck.
Päivi Rintaniemi, Designerin und Künstlerin, lebt und arbeitet in Finnland. Sie studierte an der Universität für Kunst und Design in Helsinki und schloss ihr Studium zunächst mit dem Titel Master of Arts und später als Kunstpädagogin ab. Im Jahr 2008 erhielt sie den Designpreis des finnischen Staates, dem zuvor eine Reihe weiterer Preise, verliehen von regionalen Stiftungen und Kunsthandwerksorganisationen Finnlands, vorausgegangen waren. Neben ihren verschiedenen beruflichen Tätigkeiten im Bereich Kunsthandwerk und Design, ist Päivi Rintaniemi als Lehrerin in der Jugendkunstschule Seinäjoki tätig, unterrichtet in der Kunsthandwerk- und Design-Schule Jurva und gehört dem Vorstand des regionalen Kunstvereins an. Zahlreiche Gruppen- und Einzelausstellungen seit 1987 im In- und Ausland zeichnen ihren künstlerischen Weg nach. Darüber hinaus betreibt sie seit 1986 ein eigenes Studio namens AMFORA, dessen ausgefallene, auf das Individuum und seine höchst persönlichen Belange ausgerichtete keramische Produktserie aus eigener Herstellung auch hier in Deutschland vertrieben wird.
Die jüngsten, hier ausgestellten Arbeiten von Päivi Rintaniemi widmen sich der Form nach augenscheinlich dem faszinierenden Gebilde Ei und damit den mit ihm historisch wie gegenwärtig in Verbindung gebrachten zahlreichen Assoziationen. Als Aufbaukeramik konzipiert, folgen die Formen einer eigenen, mathematisch wie physikalisch berechneten Logik, deren Gesetzmäßigkeit durch die Entstehungszeit der Keramik über einen länger währenden Zeitraum hinweg gleichsam aufgehoben scheint. Auf einer punktgenau errechneten Standfläche gesetzt, dokumentiert die beinah schwebende und damit fragil erscheinende, immerzu aber verführerische Schönheit der sich im Oval verlierenden Form einerseits, wie die Farbgebung und die von Furchen durchzogene Oberflächenstruktur eine ebenso natürliche wie eine durch den Menschen künstlich herbeigeführte, in jedem Fall aber der Natur abgerungene Erscheinung ist. Andererseits zeigt die künstlerische Erschaffung der stets variierten Form, wie sehr die kulturelle Evolution bereits die Natur in ein Synonym transformiert hat. Vielleicht verdeutlicht sie den gesellschaftlichen Belang der Umwelt für den Menschen wie seine Einstellung zur Natur, die überwiegend auf fragwürdige Ansprüche auf Herrschaft und Besitz gründet, vielleicht auch nicht. Der vermeintlich zerbrechlich wirkenden und doch einem strikten Naturgesetz gehorchenden Systematik der Außenwelt antwortet jedenfalls stets eine als mitfühlend oder mitschwingend zu bezeichnende Innenwelt. Wie der Mensch durch seine Haut mit der Außenwelt verbunden ist, trägt die membranhaft aufgebaute, aus mehreren keramischen Schichten in einem zeitlich aufwändigen Prozess entwickelte Hülle dazu bei, sich gedanklich entweder in den Anblick der äußeren Form zu verlieren oder sich ins Innere zu begeben, ohne je den Bezug zum anderen zu verlieren. Lässt man sich auf das äußere Bild ein, so weckt dieses naturgemäß andere Assoziationen, als umgekehrt. Drinnen kann sich der Blick kanalisieren, vom Dunkel der Wände gelenkt, auf die durchbrochene, ja durchstoßene oder zerborstene, lichtdurchflutete Öffnung fallen. Verlassen, ja entfremdet präsentiert sich dem Betrachter aus dieser Schau ein Ambiente, dessen Wesen – der innere Kern – letztlich ihn, den Betrachter selbst, seine Gedanken- und Empfindungswelt, definiert.
Auch die unbetitelten Arbeiten von Birgit Särmö-Woll lassen durch Zitate oder Pointierung einzelner Motive aus der Natur weitreichende Vorstellungen zu, die durch Kontextualität mit vertraut Geglaubtem fremdartig anmuten: Auf Stützen gesetzt, entwickeln sich wie aus eigenem Antrieb, papierene Objektinstallationen. Mandel- oder Blattförmige Ornamente, Kreise oder Blütenformen, scheinbar zufällig gesetzt oder umeinander gruppiert, ordnen sich größeren klaren geometrischen Formen wie dem Quadrat oder Rechteck unter. In einem solchen System der Quadratur dominiert die fast vollständig das Objekt überziehende Farbe Weiß, in ihrer metaphysischen Symbolik gelegentlich von ihrem stärksten Farbkontrahenten Schwarz untermalt. Jenseits der Eleganz und unnahbaren Würde, die diese vielschichtigen Arbeiten ausstrahlen, geht etwas Geheimnisvolles, Mystisches und Undurchdringliches, auch Melancholisches und Mächtiges von ihnen aus. Das Schwarz als Farbe der fruchtbaren Erde, des Verstehens und des Okkulten schimmert durch die aus sorgsam zusammengenähten Papierlagen gebildeten einzelnen Hüllen nahezu jedes einzelnen Werkes durch und bemächtigt sich unterschwellig der Ornamente. Gelegentlich wird dieses Schwarz völlig unerwartet von einsetzenden roten oder grünen Farbnuancen überlagert, wodurch der in sich stumme Gegenstand wie einer punktuellen Erlösung entgegenzieht. Damit findet aus der Tiefe eine Metamorphose statt, die vom Tod zum Leben, vom Unbewussten zum Bewussten führt und Momente persönlicher Einsicht gebiert.
Birgit Särmö-Woll ist gebürtige Finnin. Im Unterschied zu Päivi Rintaniemi verließ sie ihre Heimat bereits in jungen Jahren und begann ihr Studium an der Fachhochschule in Pforzheim, das sie im Jahr 1977 als Diplom-Designerin an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach abschloss. Seit den 1990er Jahren im Main-Kinzig-Kreis ansässig, gehört sie als Mitglied der Kunstwerkstatt Schöneck-Nidderau und der IAPMA („The International Association of Hand Papermakers and Paper Artists“) an. Bereits 1992 begann sie mit freien Arbeiten, die in Einzel- und Gruppenausstellungen zunächst in Deutschland, später auch im europäischen und außereuropäischen Ausland ausgestellt wurden, darunter Korea und die USA. Stets beschäftigt sich Birgit Särmö-Woll in ihrem künstlerischen Oeuvre mit dem Papier und dem ihm zugrunde liegenden Rohstoff Holz. Überlappungen von einzelnen Papierfragmenten, häufig kombiniert mit Ästen oder Zweigen, vernäht, verbunden, verwandelt, verraten ihre starke Affinität zur belebten Natur mit der ihr innewohnenden Ästhetik, aber auch ihrer zyklischen oder durch ökologische Veränderungen unserer Zeit verursachten Vergänglichkeit. Man liegt sicherlich nicht falsch mit der Behauptung, dass die Arbeiten von Birgit Särmö-Woll neben autobiografischen Zügen auch ein stilles, vielleicht kritisches gesellschaftspolitisches Potenzial enthalten.
Wie Stelen wirken sie, zufällig in den Raum gestellt, jederzeit ab- und umbaubar. Sicherlich auch dies kein Zufall: Fraglos verdichten sich heute in der Lebensspanne eines Menschen ungleich mehr historische Umwälzungen, die persönliche Veränderungen nach sich ziehen und ihn zwingen, sich jenseits starrer Identitätskonzepte zu erklären. Dabei ist die Migration in ein fremdes kulturelles oder landschaftliches Umfeld nur eine reale Erscheinungsform unter vielen. Es stellt sich die Frage, aus wie vielen Bestandteilen sich eigentlich heutige Identitäten zusammensetzten und ob eine „ursprüngliche“ Identität in einer globalisierten Zeit bewahrt werden kann oder sollte. Wenn der Kunstschaffende aus einem fremden kulturellen Umfeld stammt, dient ihm die Kunst angesichts der beständigen Beobachtung von Außen, immer auch als Standort- und Reflexionsmedium. Und so erlauben die aus Hülle um Hülle kreierten Papierstelen von Birgit Särmö-Woll, Parallelen zwischen Zeit und Kultur, Statik und Bewegung zu ziehen; sie geben die Erkenntnis weiter, dass vielleicht die Schönheit der Oberfläche gerade von der Verhüllung und Enthüllung einer geheimen, unerkannten Dimension, eines vom Wandel, Abschied und Neubeginn bestimmten Lebens herrührt. Die Realität ist niemals nur die Summe von Belegen kognitiver menschlicher Leistungen oder nüchterner Objektauffassungen, sondern eine Zusammenschau von einzelnen Eindrücken, die sich durch ein persönlich kreiertes Bild darstellen. Diese individuelle Sinngebung und Deutung wird gespeist von Steuerungsmechanismen, wie Bildung und Kultur, aber auch Erinnern, Wahrnehmen und Denken bis hin zu Emotionen und Stimmungen. Ohne dem Betrachter die persönliche Wahrnehmung zu nehmen oder ihre eigene Auffassung zu diktieren, übernimmt Birgit Särmö-Woll die wundersame Arbeit des Erkennens in eben dieser Bewusstseinsstufe. Indem sie die einzelnen Momente der bewussten Wahrnehmung durch das statische Medium eines Objekts zum Stillstand bringt, gewissermaßen die heraufbeschworenen und beständig im Wandel befindlichen Phantasmen der (auch menschlichen) Natur im Bild fixiert, ermöglicht sie dem Betrachter einen persönlichen Zugang zu und einen intimen Einblick in ihr Werk.
Stets gilt das Interesse dem imaginären Bild, das sich jenseits des Abbilds für jedermann anders und auch für diesen immer neu definiert. Es ist die zum sonderbaren Gespinst von Zeit und Raum erklärte Aura, die beide Künstlerinnen ihren Objekten zu entlocken und der inneren Schau des Lebens zu entziehen verstehen. Wenn die leicht verfremdete Imitation des Vertrauten in eine universell verständliche Bildsprache übersetzt wird, entsteht Raum für unausgesprochene Sinnzusammenhänge. So thematisieren die in diffusem Licht getauchten keramischen Objekt-Installationen von Päivi Rintaniemi Leere und Fülle, Abwesenheit und Dasein, die Papier-Skulpturen von Birgit Särmö-Woll eine innere Schau auf erkenntnisreiche Lebensmomente, und schlagen damit unweigerlich den Bogen von der Natur zum Menschen, von der Vergangenheit in die Gegenwart. Das Kunstwerk wird zum Spiegelbild einer ebenso verspielten wie systemischen, einer ebenso vordergründigen wie verborgen-erregenden Wirklichkeit, voller Widersprüche und Ungereimtheiten, in der das Ich dem eigenen Selbst begegnet und sich erst in der Einfindung in dem ihn umgebenden Raum begreift.© Dr. Schoole Mostafawy, 2011