Rede von Prof. Dr. Heinz Schilling zur Eröffnung der Ausstellung „Filigrane Geflechte. Neue Arbeiten aus Ton“ von Martina Schoder.

Massig steht dieses Kirchlein hier auf seinem kleinen Hügel. Nähert man sich von unten her, dann wirkt es trutzig. Architektonisch ist es in meinen Augen eine Sensation der Schlichtheit. Ein Bau ohne Schnickschnack. Romanik die Epoche, der man die Kapelle zuordnet, damit verknüpft man üblicherweise den Speyerer Dom, die größte noch erhaltene romanische Kirche der Welt, oder auch Notre Dame in Poitiers. Das Romanische Haus in Gelnhausen, der Saalhof in Frankfurt und eben die Hirzbacher Kapelle sind hingegen nur regional weltberühmte Romanik.
Rundbogen, dicke Mauern, kleine Fenster; wuchtig, schlicht, streng, klar. Dies die Signatur der Baukunst der Romanik.
Wenn wir um uns blicken sehen wir hier: Dicke Mauern und kleine Fenster. In der Zeit, als dieses Gemäuer entstand hatten Fenster noch einen anderen Namen – einen Namen, den es im Englischen bis heute gibt und den dank der Firma Bill Gates die ganze Welt kennt: Windows. Als diese Marienkapelle hier gebaut wurde nannte man Fenster noch Windauge – das „ow“ in window meint das Auge. Und eigentlich erst in der nachfolgenden Bauepoche, als mit der Gotik auch so etwas wie himmelsstrebende Eleganz in der Architektur aufkam, wurden die Windaugen mit Glas geschlossen; vorher hat man mittels Tierhäuten, die über die viereckigen Wandöffnungen gespannt wurden es geschafft, den Wind draußen zu halten und Licht – nicht allzuviel an Helligkeit freilich – hereinzulassen.
Mit der Gotik kam auch Fensterglas auf, kleinstückig zunächst noch, weshalb für die größer werdenden und dann verglasten Wandöffnungen eine innere Statik nötig wurde, die wir heute als reine Kunst bewundern, aber zunächst nur der Fixierung der Glasstücke dienten – das Maßwerk.
Meist beim Verlassen gotischer Kirchen fallen sie uns heute auf – die großen runden Fenster über den Portalen der Giebelfassade der Kathedralen. Feines, filigranes Maßwerk, und dieses Geflecht gefüllt von Glas. Wir nehmen dies alles als Ornament wahr, was im Grunde ganz praktischen Zwecken dient: Den Wind draußen zu halten und Licht hereinzulassen. Und der Name dieser runden Fenster mit ihrem Glas-Gespinst und Glas-Geflecht ist Rosette. Rosette, die kleine Rose, die im Lauf der Zeit immer größer wurde und zur Partikularkunst mutierte.

Martina Schoder nennt ihre filigranen Geflechte, die dieser Ausstellung den Namen geben, Rosetten. Es sind keine großdimensionierten Objekte und sie sind vor allem nicht flächig. Aber sie werden auch zweidimensional, wenn sie sich als Schattenwurf an der Wand abbilden. Diese Rosetten mit ihrem tönernen Maßwerk verkörpern beides, zum einen sind sie Raumkörper – halbrunde durchbrochene gefäßhafte Objekte und – als Plastiken – Körper im Raum. Und dann werden sie als Ergebnis eines Licht-Spiels Fläche auf anderen Flächen. Halbrund, halbhohl und flach. Der Blick des Beschauers mag hin- und hergehen zwischen dem filigranen Geflecht der korbähnlichen Gebilde und dem Schattenriß auf der hellen Wand. Wobei es wichtig ist, woher das Licht leuchtet. Das ist ein Spiel, wie es die Künstlerin Martina Schoder reizt. Nicht nur, daß sie diese filigranen Geflechte mitten in einem recht kontrastierenden Ambiente des massiven Gemäuers inszeniert, sondern auch daß sie die Projektion des Dreidimensionalen auf die Fläche dahinter wohl schon mit entwirft, die Reduktion einer Plastik auf ein ornamentales Muster, das immer anders aussieht.
Und das ist es, was auch den Beschauer anregen kann: Mit Adaptionen und Kontrasten zu spielen. Und es scheint, als würde das, was heute hier ausgestellt ist, mit diesem Bau spielen – ihm entsprechen oder auch ihm widersprechen.
Auf Kunst muß man sich einlassen. Man muß die Dinge in Beziehung setzen. Kontrast – und deshalb auch komplementär – sind zunächst die filigranen Geflechte. Und sie können ja auch etwas in Gang setzen, das über die Objekte hinausgeht.
Das Wort, das mir in den Sinn kommt, ist das Wort Raufe. Raufen sind Gestelle für Heu, Stroh oder Gras. Das Vieh rupft und zupft sich sein Futter meistens direkt aus der Raufe an der Wand. Diese Kapelle, die in den letzten Jahrhunderten baulich und spirituell heruntergekommen war und sehr profanen Zwecken – als Stall und Scheune – diente, sie scheint, wenn man über die Geschichte dieses Kirchleins etwas gelesen hat, diesen Gedanken geradezu herauszufordern. Aber es ist nicht meine eigentliche Assoziation, sondern – wiederum ein Spielen – ein Spielen mit Material, mit der Ästhetik der Form und mit der Funktion.
Korb ist in der uns bekanntesten Vorstellung das – durchaus dreidimensional – Geflochtene. Und was wir hier vor uns haben, dieses Geflecht, schafft Raum. Bei der Plastik kommt es wirkungsmäßig sowieso darauf an, was da ist und was nicht da ist, also auch das, was erst entsteht, indem wir es sehen. Wir sehen das, was materialhaft vorhanden ist, diese überkreuzten Riemchen aus gebranntem Ton; und dann gibt es etwas, was das Auge unserem Hirn meldet, was das Hirn schnell mit unzähligen gespeicherten Dispositiven verknüpft und unseren Eindruck erst entstehen läßt inklusive der Lücken, der Luft dazwischen und drumherum. Gerade künstlerische Plastik ist immer das tatsächlich Vorhandene und das Ausgesparte, das Weggelassene. Und gerade Plastik hat im Grunde genommen drei Mitspieler: den Künstler, das Objekt und den Betrachter, der eine Skulptur – idealerweise – im Drumherumgehen, im Anfassen mit Händen und Augen richtiggehend begreift.

Diese Terracotta-Streifen, also die irdenen Riemchen sind etymologisch tatsächlich wieder mit der Raufe verwandt. Und besonders interessant ist natürlich, was es mit dem Wort „filigran“ auf sich hat. „fil“ ist der Faden, „gran“ ist das Korn; „filigran“ vereinigt also zwei Vorstellungen, etwas Weiches, Feines, Dünnes mit etwas Festem und – wenn Sie an Gran…it denken – mit etwas, das ausgesprochen hart und fest ist. Ich denke, beides bekommt in den filigranen Geflechten seine Gestalt. Aus dem Wort „filigran“ läßt sich übrigens leicht das Wort „fragil“ machen. Ich weiß nicht, wie sich die Rosettenkörbe verhalten, wenn sie statt auf Fil…etvorhänge auf etwas doch Härteres fallen, auf den Boden etwa. Vermutlich werden sie das übel nehmen und in tausend Stücke zerspringen. Denn das Material, zuvor weicher formbarer, klatschiger Ton hat inzwischen zwar seine Feuerprobe bestanden, hat seine volle Härte gewonnen aber seine Plastizität für immer verloren als er zur Plastik wurde.

Alles andere als fragil, im Gegenteil: sehr solid, dauerhaft und nahezu eisern muten andere Exponate an, die so recht passen zu dieser Kapelle, die tausend Jahre überdauert hat. Die Ketten und die Knoten aus Martina Schoders Atelier sind jedoch nicht aus Eisen oder einem anderen Metall, sondern aus Ton, der im Brennvorgang auch gleich eine Art Patina annimmt.
Und da Martina Schoder eine Künstlerin unserer Region hier ist greift sie gern auch regionale Sujets oder Anstöße auf, einer davon ist ein Anlaß in Niederdorfelden, wo sie lebt und wo es seit 2006 den Bürgermeister Matthias Zach gibt, für den sie nach einem Jahr Amtszeit eine Amtskette geschaffen hat mit genau 365 Teilen, also für jeden Tag eines. Mit diesen 365 ringförmigen Gliedern läßt sich natürlich nicht immer regieren, Zach weiß auch ohne Insignien, was er Tag für Tag am Hals hat. Und so sehen wir das auch nicht eben leichte tönerne Symbol heute hier in die Exponate eingereiht, begleitet von der alten Weisheit, daß Marmor, Stein und Eisen bricht – aber diese Kette nicht. Vorausgesetzt, man geht pfleglich damit um.
Und noch ein Exponat muß schließlich besonders erwähnt werden, weil Martina Schoder ganz direkt auf ein historisches Detail der Hirzbacher Kapelle zugegriffen hat: Vor genau 20 Jahren wurde – man kann es nicht anders sagen: in letzter Minute – diese Kapelle vor dem endgültigen Verfall gerettet. Dabei wurden auch Ausgrabungen gemacht, wobei vieles aus dem Untergrund zutage kam. Unter anderem auch Bruchstücke aus Irdenware, aus rotem Ton gebrannt. Dann folgte das übliche Puzzlespiel der Archäologen; rekonstruieren ließ sich u.a eine Fliese mit dem sog. Lilienkelche-Muster. Fügt man vier davon zusammen, dann ergibt sich der seit dem Mittelalter bekannte Dekortypus „Blütenstern“. Die Grabungsbefunde sind in einem Buch dokumentiert, und das Blütenstern-Ornament hat Martina Schoder zu einem Multiple speziell für diese Ausstellung inspiriert. Es hat seinen Platz auf dem Podest. Die handgefertigten Unikate können bei der Künstlerin bestellt werden.